Was trägt zur Qualität einer Blutzuckermessung bei?
Klar, das Gerät und der, der sie durchführt. Es lohnt sich, sich ein wenig mehr mit dieser Frage auseinander zu setzen, wie nicht zuletzt die Rosso-Studie gezeigt hat.Haben Sie unsere "Zahl des Monats" auf Seite 1 der 2. Ausgabe 2007 von Diabetes>News gelesen? Natürlich kannten Sie als Diabetes-Experte diese Zahl schon. Oder? Klar zu beantworten ist, was diese Zahl bedeutet: Beträgt der Glucose-Wert mit der Referenzmethode, der enzymatischen Glukose-Hexokinase-Methode, gemessenen 100 mg/dL, so darf das Patientengerät einen Wert von 85 bis 115 mg/dL messen, um die Norm DIN EN ISO 15197 zu erfüllen. Dieser Wert wiederum muss aber mit der von der Norm geforderten Präzision gemessen werden, die einzelnen Werte des selben Gerätes dürfen dabei nur um 5% variieren.
Wer sich über diese Abweichungen wundert, der spürt am eigenen Leib die verschiedenen Bedeutungen des Wortes "Qualität". Umgangssprachlich hat es einen positiven Unterton, gehört Qualitätsware eben zum Premiumsegment. In der Welt des Deutschen Instituts für Normung DIN und der Zertifizierungsindustrie aber ist Qualität reduziert auf die eigentliche Wortbedeutung, und die ist "Beschaffenheit".
Qualitätssicherung ist deswegen die Sicherung einer vorher bestimmten Beschaffenheit und Qualitätskriterien definieren, wann eine solche Beschaffenheit als erreicht angesehen wird. In unserem konkreten Fall heißt das, dass ein Blutzucker-Messgerät, das das 15%-Kriterium erfüllt, der Qualität der Norm DIN EN ISO 15197 entspricht. Umgangssprachlich gesagt: Es misst gut. Gut genug, um die Norm zu erfüllen.
Messen und Leben
Allen, die diese Zahlen kennen und die daraus eine Abneigung gegen allzu verbreitetes Messen des Blutzuckers ableiten, stehen die Ergebnisse der Rosso-Studie an nicht-insulinpflichtigen Menschen mit Typ-2 Diabetes entgegen. Diese zeigte, das diejenigen, die diese nach Labormaßstäben nicht ungeheuer präzisen Messsysteme regelmäßig zur Eigenkontrolle nutzen, nach 6,5 Jahren Diabetes eine deutlich geringere Sterblichkeit haben als solche, die nicht gemessen haben.
4,6 gegen 2,7% waren die Zahlen, die die Forscher um Prof. Dr. med. Stephan Martin gefunden haben, rund 3.000 Patienten nahmen an der retrospektiven Untersuchung teil, jeder in seinem normalen Versorgungsalltag. Die IDF hat nicht zuletzt deshalb die Blutzucker-Selbstkontrolle in ihre Therapie-Leitlinien aufgenommen und als integralen Bestandteil des Selbstmanagements bei allen Patienten mit Diabetes bezeichnet. "Ich persönlich glaube nicht, dass man den Typ-2 Diabetes allein durch eine Optmierung der pharmakologischen Therapie behandeln sollte. Es ist wichtig, die Eigenverantwortung der Patienten zu stärken", bezieht Martin Stellung.
Eine andere Untersuchung aus der Versorgungs-Realität zeigt, warum Qualität nicht bei technischen Werten aufhört. Der von Roche Diagnostics unterstützte Blutzucker-Selbstmanagement-Report 2006 fand, so Autor Prof. Dr. med. Thomas Koschinsky, "eklatante Informationsdefizite". Und das obwohl sämtliche der fast 1.000 ausgefüllten Fragebögen von Diabetikern kamen, die regelmäßig ihren Blutzucker kontrollieren.
Fragen zur Blutgewinnung, zur Blutzuckermessung, zur Dokumentation und Auswertung der Messwerte sowie zur Diabetesschulung repräsentativ für selbstmessende Diabetiker beantwortet. Danach nutzt nur jeder Zweite die seitliche Fingerkuppe zur Blutentnahme, 31 Prozent die Mitte der Fingerkuppe und durchschnittlich acht Mal wurde eine Lanzette dabei verwendet – "das grenzt an Masochismus", kommentierte Koschinsky.
Nicht nur für den Schmerz bei der Messung, sondern für das Ergebnis relevant sind andere Fehleinschätzungen. Zum Beispiel glauben 38 Prozent nicht, dass das mehrmalige Auftragen von Blut das Messergebnis beeinflusst, oder sind sich dabei nicht sicher. Jeder Zweite meinte, Temperaturunterschiede bei Gerät oder Teststreifen würden die Messung nicht beeinflussungen. 69 Prozent der Nutzer gehen fälschlicherweise davon aus, dass jedes Messgerät eine Fehlermeldung anzeigt, wenn ein beschädigter Teststreifen eingelegt wird. Manche der Unsicherheiten ist auch in mangelnder Schulung begründet, ein Drittel der selbstmessenden Diabetiker ist laut des Reports dazu nie geschult worden. Insgesamt waren sich 44 Prozent in irgendeiner Art unsicher bei der Messung.
Entwickeln und Schulen
Neben der Gerätequalität, die man relativ leicht an den entsprechenden Parametern festmachen kann, spielt also auch die Prozessqualität beim Messen eine große Rolle. Die Schulung der Anwender von Messgeräten ist demnach ein wichtiger Teil der Qualitätssicherung. Roche zum Beispiel hat daraus für sich den Anspruch abgeleitet, entsprechende Programme zu fördern oder mit zu entwickeln. Auch Ressourcen für den großen Anteil an unsicheren Anwendern erhöhen die Qualität der Messungen, telefonische Geräteinweisung, Gerätechecks oder Infomaterial bis hin zum interaktiven "Auffrischungskurs" für die Schulung auf der Accu-Chek-Webseite gehen in diese Richtung.
Wie wichtig noch vor der Messung und ihrer korrekten Ausführung das Thema Motivation ist, zeigt eine andere Zahl des Blutzucker-Selbstmanagement-Reports: 52 Prozent der Befragten gaben an, dass die Messung gelegentlich nicht durchgeführt wird, nach dem Vergessen waren die häufigsten Gründe dafür "unterwegs zu kompliziert" und "unangenehm in der Öffentlichkeit".
Neben Themen für eine Informationskampagne pro Selbstkontrolle kann man aus diesen Antworten auch Entwicklungstipps für die Gerätehersteller ableiten: Denn alles, was als Hürde empfunden wird, führt auch zu einer geringeren Bereitschaft zur Messung. Ein schönes Beispiel für den dualen Ansatz Entwickeln und Schulen ist sicher auch die Blutgewinnung: 73 Prozent gaben in dem Report an, dass sanfte Blutgewinnung für sie wichtig oder sehr wichtig ist. Also trifft zum Beispiel eine Stechhilfe mit der schwingungsvermeidenden Softmotion-Technologie ein Bedürfnis, Hightech ohne das Wissen wie man sie anwendet ist jedoch Geldverschwendung.
Bis zu einem gewissen Punkt können moderne Messsysteme Handhabungsfehler minimieren, indem sie automatisch eine Unterdosierung der Blutmenge erkennen und die Möglichkeit zur Nachdosierung geben oder Messwertabweichungen, die durch äußere Faktoren entstehen können, reduzieren. Einen sorglosen Umgang mit den Teststreifen können sie jedoch nicht vermeiden, diese Erkenntnis muss durch Schulung vermittelt werden.
Unabhängiges Institut
Wer anhand mancher Wissenslücken jedoch dem im Computerslang so genannten DAU, dem Dümmsten anzunehmenden User, alle Schuld gibt, sollte sich mit Prof. Dr. med. Lutz Heinemann unterhalten. Der Neusser Forscher nimmt die Hersteller in die Pflicht und zählte bei einem Vortrag auf dem Kirchheim-Forum die zahlreichen Einflussfaktoren der Blutzuckermessung auf: Messprinzip und -technik, Charge sowie Lagerung und Alter des Teststreifens, die Kalibrierung des Geräts mit Blut oder Plasma, Alter und Pflege des Messgeräts, die Umgebungsbedingung der Messung und schließlich eben auch die Durchführung der Messung selbst.
Er vermisst bei vielen aktuellen Geräten zum Beispiel gute Untersuchungen zur Temperaturabhängigkeit unter realen Bedingungen sowie zur Abhängigkeit der Messung vom Hämatokrit. Und tatsächlich, die eingangs erwähnte Norm ist keine zwingende Voraussetzung, um mit einem Messgerät auf den Markt zu kommen. Ein CE-Zeichen reicht aus und sagt über die Messleistung gar nichts aus.
Heinemann schlägt vor, ein unabhängiges Institut für die Evaluierung von Blutzuckermessgeräten zu gründen, das sich längerfristig mit der Technik und ihrer Bedeutung für die Menschen mit Diabetes beschäftigt. "Die akademische Szene hat einen anderen Fokus, man interessiert sich dort mehr für therapeutische Interventionen", deutet er Defizite an. Ein anderes, dem Namen nach unabhängiges Institut hat übrigens ebenfalls Interesse an der Blutzucker-Selbstmessung angekündigt: Man darf gespannt sein, was das IQWIG zu Rosso, IDF-Leitlinie und Patientenwünschen zu sagen hat. Auch seine Stellungnahmen zeigen ja mitunter, wie unterschiedlich man Qualität auffassen kann.