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Interview

IQWIG-Vorbericht
"Diskussion völlig am Problem vorbei"

Der Vorbericht des IQWIG zur "Vergleichenden Nutzenbewertung verschiedener antihypertensiver Wirkstoffgruppen als Therapie der ersten Wahl bei Patienten mit essentieller Hypertonie" hat für einigen Wirbel gesorgt. Diabetes>News sprach mit Institutsleiter Prof. Dr. med. Peter Sawicki über den Vorbericht, was zählt bei Hypertonie, und warum er unter Umständen verstanden hätte, wenn der GBA den IQWIG-Empfehlungen zu Insulinanaloga nicht gefolgt wäre.
Diabetes>News: Prof. Sawicki, Sie waren bis 2005 Präsident der Hypertension in Diabetes Study Group der EASD und sind dort noch als einfaches Mitglied aktiv. Wie ist dort die Resonanz auf den Vorbericht des IQWIG, welche Therapie empfiehlt die Gruppe?
Prof. Sawicki: Wir haben zum Beispiel über den Aspekt der Bedeutung der Entwicklung des Diabetes unter Antihypertensiva in den beiden letzten Jahren diskutiert. Aber dort wird nicht zum Schluss ein Konsens erreicht, sondern man tauscht Argumente aus und diskutiert die Studien und deren Stärken und Schwächen.
Diabetes>News: Sind die Diskussionen in diesem Gremium ähnlich kontrovers wie in Deutschland?
Prof. Sawicki: Die Diskussionen sind schon anders, sie sind besser, nicht so flach wie in Deutschland. Es ist schon so, dass wir hier ein Nachholbedarf haben in der Kultur der Diskussion. Man diskutiert die Ergebnisse der Studien unter genauer Kenntnis ihrer Inhalte, das ist ja in Deutschland nicht immer der Fall. Aber grundlegend gilt, wenn man über die Folgen des Diabetes unter antihypertensiver Therapie spricht, dass das ja ein unklares Gebiet ist. Es gibt Studien, die sagen, das ist ein Surrogatparameter, es ist völlig egal, ob der Blutzucker 5 mg/dL höher oder niedriger ist, es kommt auf andere Dinge an und es gibt Menschen, die sagen, es ist nicht egal. Das ist nicht eindeutig geklärt.
Diabetes>News: Können Sie für unsere Leser noch mal die Kernaussagen des Vorberichts zur Nutzenbewertung verschiedener antihypertensiver Wirkstoffgruppen nennen?
Prof. Sawicki: Im Grunde ist das, was wir publiziert haben, ja nur das, was andere auch gefunden haben, es entspricht den WHO-Empfehlungen, den amerikanischen Empfehlungen und es entspricht der NICE-Bewertung. Das Ergebnis ist, dass die am besten belegten Präparate zur Reduktion der Komplikation des Bluthochdrucks Thiaziddiuretika und Chlorthalidon sind. Das heißt nicht, dass es nicht andere gibt, die auch ähnliche Potenz haben könnten, nur das ist eben für diese Präparate nicht belegt.
Diabetes>News: Würden Sie denn überhaupt soweit gehen, daraus eine Empfehlung abzuleiten, denn Sie sagen ja selbst, dass es nur eine Frage der Belegung ist. Inwiefern kann ganz konkret dieser IQWIG-Bericht auf Menschen mit Hochdruck und Diabetes angewandt werden?
Prof. Sawicki: Patienten mit Diabetes sind ja sehr gefährdet durch die Folgen des Diabetes, sie haben ein hohes Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle und Durchblutungsstörungen. Und am besten kann man diese Komplikationen verhindern, indem man den Blutdruck in Normalbereiche senkt, das ist unter 140/90. Und da stellt sich die Frage, gibt es darüber hinaus einen Vorteil von Medikamenten. Ja – gibt es; es scheint sich abzuzeichnen, dass tatsächlich die Diuretika da den anderen Medikamenten bezüglich der Belegkraft überlegen sind. Das heißt, wenn es nicht Gründe gibt, einen Patienten mit Diabetes anders zu behandeln, wäre es gut, wenn die Behandlung ein Thiazid-Diuretikum oder Chlorthalidon mit einschließt.
Diabetes>News: Stichwort Miteinschließen. Im Vorbericht geht es ja um die Therapie der ersten Wahl. Und dann?
Prof. Sawicki: Genau, es geht um die Therapie der ersten Wahl, womit fange ich an? Denn auch eine Kombinationstherapie muss ja mit irgend etwas anfangen. Ein Thiazid-Diuretikum, Chlorthalidon, bei normaler Nierenfunktion in Kombination mit Triamteren oder Amilorid, um den Kaliumabfall zu verhindern, damit würde ich anfangen. Und dann muss man sich zunächst mal Zeit lassen, diese Präparate wirken erst dann voll, wenn sie lange genug eingenommen werden. Es wird viel zu schnell gesteigert, vor allem im Krankenhaus. Diese Einstellung ist eine Domäne der ambulanten Medizin, darum sollen die Ärzte im Krankenhaus sich gar nicht so richtig kümmern. Und dann geht man weiter: Hat der Patient die Medikamente vertragen, ist der Blutdruck kontrolliert, dann kann man zufrieden sein. Hat er sie nicht vertragen, dann muss man das Präparat wechseln. Hat er sie vertragen, aber der Blutdruck ist nicht gut kontrolliert und er nimmt tatsächlich die Medikamente ein, dann muss man eine Kombination starten. Das Wesentliche ist, dass der Patient geschult wird, und das ist ein Manko in Deutschland. Der Patient muss wissen, warum er die Präparate einnimmt, wie er reagiert, wenn hohe Werte auftreten. Diese Schulungen sind auch nicht sehr aufwendig, vier Mal je eine Stunde, die von der Arzthelferin durchgeführt werden können. Das ist das Beste für die Compliance. Das wesentliche für die Hypertonie-Behandlung ist die Qualität der ärztlichen Betreuung.
Diabetes>News: Gibt es Daten, wie sich so eine Schulung auf die Compliance auswirkt?
Prof. Sawicki: Natürlich, bücherweise. Wir haben sogar eine Studie gemacht bei Diabetes-Patienten, dass solche Schulungen das Leben verlängern. Was für blutdrucksenkende Medikamente im Vergleich untereinander nicht unbedingt so belegt ist. Diese Schulungen sind hochwirksam.
Diabetes>News: Würden Sie eine Schätzung wagen, bei welchem Anteil der Diabetiker eine Kombinationstherapie dann doch sein muss, um die Zielwerte, die beim Diabetiker ja sehr streng sind, einzuhalten?
Prof. Sawicki: Erstmal ist die Frage, ob man bei Diabetikern andere Zielwerte braucht als bei Nicht-Diabetikern, das ist für mich so nicht geklärt. Die Evaluation, die wir gemacht haben, zeigt das nicht, Diabetiker und Nicht-Diabetiker müssen genau so gut eingestellt werden, es gibt keinen Grund, Nicht-Diabetiker schlechter einzustellen. Die Zielwerte sind unter 140/90, und zwar vor der Medikamenteneinnahme und bei Selbstmessung. Und dann erreicht man bei einem Einzelpräparat bei jedem Zweiten das Ziel, wenn sonst der Kontext stimmt. Bei zwei Drittel der Patienten kommt man nach der Literatur mit zwei Präparaten hin und bei fast 90 Prozent mit drei.
Diabetes>News: Der Kontext umfasst dann auch die Schulung?
Prof. Sawicki: Ja. Die meisten Patienten haben ja schlecht eingestellte Werte, weil sie die Medikamente nicht nehmen, sie lesen den Beipackzettel, hören was von der Nachbarin und haben dann nicht den Mut, mit dem Arzt zu diskutieren. Der ganze Kontext der Behandlung muss aufgefangen werden. Wir haben sehr gute Medikamente, und dass weniger als zehn Prozent der Menschen mit Bluthochdruck und Diabetes gut eingestellt sind, ist eine Katastrophe!
Diabetes>News: Auf diesen Punkt, die Unterversorgung der Hypertoniker generell, wird ja auch in der Einleitung zum Vorbericht eingegangen. Was kann man dagegen tun, ist der Bericht hier hilfreich?
Prof. Sawicki: Nein, der Bericht bezieht sich nicht darauf. Zunächst geht es darum, dass der Arzt bei allen seinen Patienten den Blutdruck kennt. Das ist zwischen den Praxen sehr, sehr unterschiedlich. So wie man bei jedem Patienten eine Krankenkasse hat, bei jedem einen Namen und ein Geburtsdatum, muss bei jedem Patienten dem Arzt bekannt sein, wie hoch der Blutdruck ist. Und wenn man dann alle Patienten mit Bluthochdruck identifiziert hat in seiner Praxis, dann weiß man auch, welche Patienten nicht ausreichend behandelt sind. Und mit diesen Patienten muss man ein Programm anfangen, und davon ist ein Teil die medikamentöse Behandlung, aber eben nur ein Teil. Wir fokussieren in unseren Diskussionen immer nur auf die Medikamente. Unterschiede zwischen ACE-Hemmern und AT1-Blockern, zwei Mal pro Tag, ein Mal pro Tag – ist doch alles Quatsch! Das regt mich sowas von auf, die Patienten sind gar nicht diagnostiziert und die Diagnostizierten sind nicht behandelt und die Behandelten sind nicht kontrolliert. Und die, die kontrolliert sind, bei diesen acht Prozent, bei den überlegen wir uns, ob wir eher einen ACE-Hemmer, AT1-Blocker oder Calciumantagonisten einsetzen. Das ist doch völlig am Problem vorbei! Das ist wie das Arrangieren von Stühlen an Bord der Titanic.
Diabetes>News: Wie steht es um die Weiterentwicklung der Schulungsprogramme? Gibt es da einen ähnlichen Fortschritt wie bei den Diabetikerschulungen?
Prof. Sawicki: Ja, die werden weiterentwickelt. Obwohl sie nicht als so wichtig empfunden werden. Das Hypertonie Behandlungs- und Schulungsprogramm (HBSP) wird jetzt vom Deutschen Institut für evidenzbasierte Medizin (DIeM) gepflegt. Das ist das am besten untersuchte Programm, leider ist das von den KVen auch im Rahmen der DMPs eingeführte Hypertonie-Programm nicht evaluiert. Mit dem HBSP kann man drei Viertel der Patienten normoton einstellen, unter der Verwendung der gesamten Palette der Arzneimittel.
Diabetes>News: Ich würde gerne zwei besonders kritisierter Punkte des Vorberichts mit Ihnen diskutieren: So hat die Formulierung der "unklaren gesundheitlichen Bedeutung der Blutzuckererhöhungen unter Diuretika" in der Diabetes-Gemeinde zu Verstimmung geführt. Missverständnis oder Meinungsverschiedenheit?
Prof. Sawicki: Fünf Prozent der Patienten haben diese Nebenwirkung. Das heißt, 95 haben sie erst mal nicht. Dann ist diese Nebenwirkung ja gering, der Blutzucker steigt um 5 mg/dL. Da könnte man sich anschauen, ob diese Unterschiede im Blutzucker wirklich zu Unterschieden im Ergebnis der Behandlung führen. Die internationalen Organisationen sagen, ein relevanter HbA1c-Wert-Unterschied sei 0,4 Prozent. Eine Blutzuckeränderung von 5 mg/dL bewirkt so gut wie keine HbA1c-Wert-Änderung. Also das ist nicht relevant. Zudem ist es reversibel. Wenn Sie bei einem Patienten feststellen, dass der Blutzucker ansteigt, dann kann man das Präparat absetzen. Ein Schlaganfall oder ein Herzinfarkt ist nicht unbedingt reversibel.
Diabetes>News: Das heißt, in diesem Fall handelt es sich um eine überzogene Bewertung dieser Blutzuckererhöhung?
Prof. Sawicki: Aus meiner Sicht ja. Nicht dass man das herunterspielen soll, diese Nebenwirkung muss man ernst nehmen und beim Patienten beobachten, ob es dazu kommt. Man kann es auch verhindern, zum Beispiel durch Kaliumgabe oder durch Kombination mit Kalium-sparenden Diuretika. Allerdings sollte man berücksichtigen, wenn man andere Präparate nimmt, dass die dann auch andere Nebenwirkungen haben. Das ist eben die Kunst des Arztes, diese rechtzeitig zu erkennen und gegebenenfalls zu modifizieren, so dass der Patient ohne Nebenwirkungen die Therapie langfristig durchführen kann.
Diabetes>News: Der andere Punkt sind die nur 16 herangezogenen Studien. Sie sagen, die Auswahl sei den Einschlusskriterien geschuldet und umfasst eben die Studien, die auch international bei einer solchen Bewertung herangezogen werden. Können Sie Studien nennen, die nicht diesen Kriterien entsprechen, aber trotzdem interessant sind für die Bewertung von antihypertensiven Wirkstoffen?
Prof. Sawicki: Natürlich, man kann Kombinationen beurteilen, man kann Eskalationsschemata beurteilen, da muss man sich andere Studien anschauen. Wir haben geschaut, wie ist das, wenn ich mit Präparat A anfange versus Präparat B. Und da haben wir erst mal Studien genommen, die groß genug sind, also die mindestens 1.000 Patientenjahre betrachtet haben. Die andere Einschränkung ist, wir haben nur die Studien genommen, in denen dann auch die Eskalationsschemen ähnlich sind, das heißt, wenn man A mit B vergleichen will, darf man in der B-Gruppe später nicht A haben. Das hat zum Ausschluss einer Studie geführt, die andere Organisationen eingeschlossen haben. Und ansonsten haben wir nichts ausgeschlossen. Das sind 16 große Studien – und 16 ist ja nicht wenig. Wenn Sie Insulinanaloga nehmen, dann gibt es bei Typ-2 Diabetes nur sechs Studien. Es gibt natürlich sehr viele Bluthochdruckstudien, aber nicht mehr Studien, die uns diese spezielle Frage beantworten.
Diabetes>News: Spezielle Frage ist ein gutes Stichwort. Auch die hat ja zu Diskussionen geführt. Man liest, es wird über veränderte Kriterien der IQWIG-Bewertungen nachgedacht.
Prof. Sawicki: Nein, es gibt keine Änderungen der Kriterien. Es gibt eine Änderung des Ablaufs durch das neue Gesetz, aber ansonsten sind die Kriterien sogar gestärkt worden. Der Gesetzgeber hat den Begriff der evidenzbasierten Medizin bei der Beurteilung des Nutzens eingeführt und auch internationale Kriterien nochmal gestärkt, und das ist genau die Methode, die wir verwenden.
Diabetes>News: Nichtsdestotrotz gibt es ja ein Spannungsfeld: Wenn man bei Ihnen anruft, meldet sich die Dame mit "Institut für Qualität", Prof. Landgraf macht es genau umgekehrt und nennt Ihr Institut nur noch Institut für Wirtschaftlichkeit.
Prof. Sawicki: Wir haben noch keinen Auftrag zur Beurteilung von Wirtschaftlichkeit. Keinen einzigen. Dass wir quasi so ein Sparinstitut sind, das stimmt nicht. Bisher haben wir keine einzige Beurteilung publiziert, die eine Kosten-Nutzen-Bewertung vornimmt. Das werden wir vielleicht machen, der Gesetzgeber will das. Es kann auch sein, dass wir das tun werden, dass wir sagen, es gibt einen Nutzen, aber der Preis für diesen Nutzen ist so hoch, dass er diesen Nutzen nicht rechtfertigt. Dafür entwickeln wir erst mal die Methodik.
Diabetes>News: Und dass das bei Ihnen am Telefon andersherum ist, ist Zufall, oder ist der Name zu lang?
Prof. Sawicki: Der Name ist zu lang, und IQWIG hört sich auch nicht so besonders nett an, da ist es schon besser man meldet sich mit NICE.
Diabetes>News: Das heißt, wir können resümieren, dass Sie sich mit den Vorgaben und der Art und Weise, wie Sie Ihre Untersuchungen machen, nicht eingeengt oder in eine gewisse Richtung gedrängt fühlen, so dass für moderne Medikamente negative Bewertungen herauskommen müssen.
Prof. Sawicki: Nein. Der Grund dafür, dass viele unserer Bewertungen nicht so gut ausfallen, ist, dass es besondere Aufträge sind. Das sind ja nicht Aufträge zu Medikamenten, die ihren Nutzen bereits bewiesen haben. Da fragt uns der GBA nicht. Er fragt uns nach Dingen, wo er Zweifel hat. Es geht auch nicht darum, Gelder nicht auszugeben, sondern darum Gelder anders auszugeben. Der GBA wird vielleicht für Patienten mit Diabetes irgendwann tatsächlich eine flächendeckende Hypertonie-Schulung einführen. Da das Geld endlich ist, muss man sich überlegen, wofür wir es ausgeben. Brauchen die Patienten mit Diabetes tatsächlich Insulinanaloga in dieser Menge, damit es ihnen gut geht, oder brauchen sie vielleicht mehr Fußambulanzen, mehr Hypertonieschulung, mehr Qualitätskontrolle ihrer Behandlung?
Diabetes>News: Aber Sie stellen dem GBA nur die Daten zur Verfügung, er kann unabhängig von seinem Auftrag an das IQWIG auch anders entscheiden, oder?
Prof. Sawicki: Der GBA kann von unseren Empfehlungen auch abweichen und ist uns ja auch nicht immer gefolgt. Er hätte auch bei Insulinanaloga sagen können: "Na gut, sie haben zwar keinen Zusatznutzen, aber 50 Prozent der Diabetiker in Deutschland sind damit schon behandelt und das kann man jetzt nicht wieder ändern, weil die Patienten daran gewöhnt sind und das nicht wollen." Das hätte ich auch verstanden. Diese Meinung kann man auch vertreten. Aber man kann uns nicht zwingen, die wissenschaftlichen Belege zu ändern. Man kann nicht fordern, dass wir Studien fälschen oder erfinden. Man muss dann sagen, die wissenschaftliche Beurteilung ist so, und wir machen es trotzdem anders, das muss der GBA dann aushalten. Ich bin damit dann auch zufrieden, die Wissenschaft ist nicht alles, man muss auch andere Dinge in Betracht ziehen.
Das Interview führte Marcus Sefrin.
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